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  • AutorenbildDenise Schindler

Kraft, die aus dem Innern kommt

Teil 1: Resilienz aus Sicht des Anwenders - der Umgang mit der größten Herausforderung: der Veränderung


Denise Schindler hat 4 Prinzipien im Blick

Alles ist möglich?


Wir laufen Treppen auf und ab, Berge rauf und runter, wir reisen um die ganze Welt, wir gehen unserem Beruf nach. Wir haben unseren Alltag mit Prothese bestens im Griff, denn modernste Prothesentechnik ermöglicht uns ein selbstbestimmtes Leben. Nicht nur im Alltag verhelfen sie uns zunehmen zu mehr Selbstständigkeit, auch im Sport eröffnen sie uns neue Möglichkeiten. Unsere Prothesen schenken uns Flügel. Wir fliegen hoch hinaus. Wer hätte je gedacht, dass ein Mensch mit einer Beinprothese weiter springen kann als ein Leistungssportler mit zwei Beinen?

Dennoch ist längst nicht alles gut. Gesunde Menschen können nur schwer nachvollziehen, wie viel Kraft, Mut und Zuversicht Menschen mit Behinderungen täglich immer wieder aufbringen müssen. Viele Dinge, die für Gesunde alltäglich sind, sind es für uns Menschen mit Behinderung eben nicht.


Geliebt und gehasst – unsere Prothese


In den guten Tagen ist sie eine gute Freundin, die uns vieles ermöglicht. Wenngleich man sie aber an schlechten Tagen gerne mal in eine Ecke pfeffern möchte – die Prothese. Unser Körper verändert sich jeden Tag, jede Stunde und jede Minute. Es ist eine Utopie zu glauben, der Stumpf bliebe immer gleich und die Prothese passt immer perfekt.


Veränderungen: Zurück auf Los


Es sind manchmal kleine Hindernisse, die andere gar nicht wahrnehmen, aber uns Amputierte an der Erreichung bestimmter Ziele scheitern lassen. Ich will jetzt gar nicht von äußeren Einflüssen sprechen, sondern von einem ganz spezifischen Problem, mit dem alle Amputierten immer wieder zu kämpfen haben: der Veränderung.


Es geht so schnell, dass sich das Blatt wenden kann. Du bist im Flow, bist aktiv und genießt einen wunderbaren Tag in der Natur. Und zack kommt der Einschlag. Auf einmal fühlst du einen stumpfen Schmerz am Stumpf. Es ist eine kleine Stelle in der Prothese, die nicht genau passt. Zuerst fühlst du eine Reizung, dann folgt häufig eine Entzündung. So hoch wie wir manchmal “fliegen”, so schnell landen wir aber auch auf den Boden der Tatsachen. Die Prothese muss erstmal weg. Der Helfer, der dir dein relativ unabhängiges Leben ermöglicht, steht auf unbestimmte Zeit ungenutzt in der Ecke. Die Schmerzen und Schwellungen sind zu groß, als dass du die Prothese noch anlegen könntest. Ganz abgesehen davon, dass dies den Heilungsprozess der Druckstelle nur unnötig verzögert. Bei mir kann es bedeuten, eine Trainingsphase vor einem Wettkampf unterbrechen zu müssen. Eine Druckstelle an der Prothese gehört definitiv zu diesen Rückschlägen. Was macht das mental mit einem, wenn die Pläne jäh durchkreuzt werden?


Um mit solchen oft unerwarteten Rückschlägen mental zurecht zu kommen, habe ich für mich 4 Prinzipien ausformuliert, die mir dabei helfen die Situation anzunehmen:


Akzeptanz – die Situation annehmen

Hilfe – suchen und annehmen, das Netzwerk aktivieren

Selbstwirksamkeit – Aktivitäten zur Ablenkung finden

Zielsetzung – Pläne für danach schmieden


Akzeptanz & Selbstverwirklichung - die Situation annehmen, Ablenkung finden


Die Situation annehmen heißt, in der akuten Phase Gas rauszunehmen und sich zu schonen. Welche Alternativen können helfen? Ein Rollstuhl, mit dem ich gut zurechtkomme, Menschen, die mir guttun und für Ablenkung sorgen. Jeder muss das richtige Maß für sich finden. Eine braucht mehr Zeit auf der Couch und lauscht Hörbüchern, der nächste räumt seinen Bürokram auf. Ich gehöre zu letzteren, nicht umsonst ist mein Spitzname „Killerbiene“. Eine Biene sonnt sich mal kurz auf einem Blatt, sie ist in der Regel aber aktiv. Die Aktivität muss aber der Situation angepasst werden. Denn es geht auch darum, das Gedankenkarussell in die richtige Richtung zu lenken. Die Aktivität kann auch im Kopf stattfinden. In der Ruhe die Kraft zu finden, die Situation anzunehmen und nicht daran zu verzweifeln. Unser Gegner ist die Ungeduld. Die habe ich natürlich auch, aber ich lenke sie um. Jeder hat unerledigte Dinge, die er vor sich herschiebt. Was für ein befreiendes Gefühl, wenn man einerseits wegen Mobilitätseinbußen zuhause gefangen ist, aber endlich mal die Buchhaltung auf Vordermann bringt. Mir hilft beides, körperliche und geistige Aktivität. Ich bewege mich in einem moderaten Rahmen und ich sorge im Kopf für Ablenkung. Du wirst dich besser fühlen, wenn der Kreislauf etwas in Schwung ist, zudem sorgt dieser für eine bessere Durchblutung und fördert die Wundheilung.


Hilfe - suchen und annehmen, das Netzwerk aktivieren


Wenn ich Probleme mit der Prothese habe, ist meine erste Adresse dann tatsächlich nicht der Arzt, sondern mein Orthopädietechniker. Nur er kann den Ursprung der Druckstelle „heilen“, denn die Prothese muss nun an der Druckstelle neu angepasst werden.


Leben mit einer Amputation bedeutet zu verstehen, dass die Prothesenanpassung zum Leben gehört, genauso wie die regelmäßigen Termine mit dem Orthopädietechniker. Bringt diesem Partner Wertschätzung entgegen, denn er oder sie werden alles versuchen, um dir eine möglichst perfekte Prothese anzufertigen oder dir eben in dieser Not zu helfen und zur Seite zu stehen. Je konstruktiver ihr mitarbeitet, je exakter euer Briefing ist, umso besser können die Informationen umgesetzt werden. Was hat zur Druckstelle geführt? Welche Bewegungen könnten Auslöser gewesen sein? War es besonders heiß an dem Tag? Diese und ähnliche Fragen helfen enorm bei der Weiterentwicklung. Von dir und von der Prothese. Durch digitale Tools wie die digitale Werkstatt von Mecuris können wir uns zum Glück immer mehr in die Entwicklung unserer Prothesen einbringen. Nicht nur was das Design betrifft: Mein Prothesenfuß ist zum Beispiel genau an meine Gangdynamik angepasst. Solche individuellen Prothesen sind enorm wichtig und sollten allen Menschen mit Amputationen zur Verfügung stehen.


Ich habe sehr viel Glück, denn ich habe vor vielen Jahren einen Orthopädietechniker gefunden, der mein vollstes Vertrauen hat. Wir kennen uns schon so lange und er weiß genau, wie er mir schnell helfen kann. Mein möglichst genaues Feedback hilft ihm bei seiner Arbeit, die Prothese möglichst genau an die neuen Bedürfnisse anzupassen. Aber nicht nur der Orthopädietechniker ist ein wertvoller Partner, um diese Zeiten der Veränderung zu meistern. Mindestens genauso wichtig ist es auch die Seele und das seelische Gleichgewicht im Blick zu haben. Informiere und aktiviere deine Familie, Freunde und Bekannte. Wer kann dir wie helfen und welche Unterstützung bieten? Habe die Größe, die angebotene Hilfe auch anzunehmen. Denke dich durch deine Situation und überlege genau, wo du Hilfe brauchen kannst. Vielleicht kann dich beispielsweise ein Verwandter zu einem Termin begleiten und fahren. Bestimmt findet sich jemand, der für dich einkauft oder dir im Haushalt hilft. Möglichkeiten gibt es viele - nutze sie!


Aktiviere deine Kraft und setze Ziele


Die größte Kraft jedoch, um mit einer solchen Situation umzugehen, kommt aus deinem Inneren. Willst Du wütend werden, verzweifeln oder (verbal/emotional) um dich schlagen? Hilft das wirklich? Vielleicht, ganz kurz. Mich aber bringt das nicht weiter. Das Leben ist zu schön und wertvoll, als dass ich mich von diesen Bodenwellen aus der Bahn werfen lassen will. Für mich hat immer besser funktioniert: Bündle deine Energie und gewinne wieder an Selbstvertrauen. Es hilft zu wissen, dass aus jeder schwierigen Situation ein Weg wieder herausführt. Visualisiere, wie weit du schon gekommen bist. Und male dir im Kopf ein Bild, was du wieder machen möchtest, wenn du diesen kleinen Rückschlag überwunden hast. Das kann ein Stadtbummel oder eine kleine Wanderung sein, was auch immer dir Spaß macht. Für Menschen mit zwei Beinen sind das banale Dinge, für Menschen mit Behinderung eben nicht. Du hast schon viele schwierige Situationen durchlebt, aktiviere dein Selbstvertrauen, dass du auch diesen Rückschlag meistern wirst.



Seid gespannt auf den zweiten Teil unserer Serie: Resilienz aus Sicht des Orthopädietechnikers.


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